Politik, Kirchen, Gesellschaft – alle reden von Familie, aber reden alle vom selben? Geht es allein um eheliche Lebensgemeinschaften mit Kindern oder um alle langfristiger bestehenden Partnerschaften? Was ist mit Alleinerziehenden oder pflegenden Angehörigen? Der Wandel des Familienbildes war Ausgangspunkt vieler Beiträge zur Situation und Förderung von Familien in unserer Gesellschaft.
Diese zentrale Zukunftsaufgabe der Politik stand im Mittelpunkt einer Fachtagung, die die Kirchenkommission der hessischen SPD gemeinsam mit der Evangelischen Akademie Arnoldshain und der Katholischen Akademie Rabanus Maurus am Mittwoch (19. März 2003) veranstaltet hat. Rechts- und Sozialwissenschaftler, Kirchenvertreter und Abgeordnete der Landtagsfraktionen diskutierten im Hessischen Landtag mit den geladenen Gästen aus Verbänden, Selbsthilfegruppen und der Kommunal- und Landespolitik.
Prof. Norbert F. Schneider, Familiensoziologe an der Universität Mainz, plädierte in seinem Eingangsstatement für ein modernes Familienbild, das sich nicht am Trauschein oder der Kindererziehung allein orientiere. Die Solidarität und Exklusivität der Beziehung untereinander und ihre relative Dauer sind für ihn das Fundament einer Familie, zu der er Lebensgemeinschaften mit Kindern oder Ein-Eltern-Familien ebenso zähle wie das Zusammenleben unterschiedlicher Generationen oder kinderlose Partnerschaften.
Überraschend war seine Feststellung, dass die in den letzten Jahrzehnten zu verzeichnende Pluralisierung der Lebensformen keinesfalls außergewöhnlich sei, sondern als Rückkehr der Normalität der Vielfalt bei den Formen des Zusammenlebens gewertet werden müsse. Das Vorherrschen der verheirateten Elternpaare als Lebensmodell stimme tatsächlich nur für die fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Staat und Gesellschaft sehe er noch zu sehr auf dieses traditionelle Familienbild ausgerichtet. Familienpolitik müsse die gewandelten familiären Lebensgemeinschaften im Blick haben, wenn sie die strukturelle Rücksichtslosigkeit der Gesellschaft gegenüber den Familien überwinden wolle.
Auch für Rechtsprechung und Gesetzgebung gilt dieser Appell, wie Professorin Sibylle Raasch, Dozentin für öffentliches Recht an der Hamburger Universität für Wirtschaft und Politik, auf dem Podium unterstrich. Sie kritisierte, dass das Bundesverfassungsgericht in seinen Entscheidungen, z.b. zum Ehegattensplitting oder zum Familienexistenzminimum, noch zu sehr ein traditionelles Rollenverhältnis in Ehe und Familie unterstütze. Da die Karlsruher Richter über den Weg der Einzelfallentscheidung vorwiegend mit steuerrechtlichen Fragen der Familienförderung befasst seien, gerate die Frage struktureller Hilfen im Bereich der Kinderbetreuung und die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch zu stark in den Hintergrund.
Das Bundesverfassungsgericht sei gefordert, den grundgesetzlichen Anspruch auf Schutz von Ehe und Familie und auf Gleichberechtigung der Geschlechter in seinen Entscheidungen besser in Einklang zu bringen. Den Anspruch auf Kinderbetreuung oder familiengerechtere Arbeitszeiten müsse aber der Gesetzgeber festsetzen.
Der Forderung nach einer gleichberechtigten Verteilung der Erwerbs- und Familienarbeit schloss sich auch Dr. Brigitte Bertelmann vom Zentrum gesellschaftliche Verantwortung der Evangelischen Kirche Hessen-Nassau an. Familie sei als generationenübergreifende Solidargemeinschaft die unverzichtbare Grundlage für den Zusammenhalt und die Wertvermittlung in der Gesellschaft. Die Anerkennung dieser Leistung von Familien betone die evangelische Kirche ebenso wie die Notwendigkeit von Unterstützung für Familien. Dabei sei der finanzielle Ausgleich und der Schutz vor Armut ein wichtiger Aspekt. Hinzu käme aber zunehmend stärker die Forderung nach infrastrukturellen Hilfen, insbesondere im Bezug auf Kinderbetreuung, Ganztagsschulen und einem geeigneten Wohnumfeld.
Den Vorzug, den die katholische Kirche der ehelichen Lebensgemeinschaft gebe, begründete Hanno Heil, Dezernent Kirche und Gesellschaft im Bischöflichen Ordinariat Limburg. Er betonte, dass die Förderung von Kindern und Familie im Mittelpunkt der Arbeit der Caritas stehe. Der Ausbau der kirchlichen Beratungsangebote und der Kinderbetreuung für die unter drei und über sechs Jahre alten Kinder sei hierbei eine zentrale Forderung. Hier stosse die Kirche allerdings an ihre finanziellen Grenzen. Im Bereich von Familien mit pflegebedürftigen Angehörigen und bei der Unterstützung von Migrantenfamilien sieht er weiteren Handlungsbedarf. Er forderte die Politik auf, die Selbsthilfe und Selbständigkeit von Familien zu stärken, da sie unverzichtbare Aufgaben für die Gesellschaft wahrnehmen.
Die Förderung der Selbständigkeit von Familie unterstrichen auch die anwesenden Landtagsabgeordneten in der Diskussion. Dr. Judith Pauly-Bender (SPD) plädierte für eine weltanschauungsplurale, staatsfreie Familienpolitik, die allen Modellen des Zusammenlebens gerecht werde. Im Mittelpunkt stehe für die Sozialdemokraten die Förderung der Startchancen von Kindern, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und damit auch die Förderung der Erwerbstätigkeit beider Partner.
Die erste Verantwortung für die Familie und Kinder liege bei den Familien selbst, schloss sich Inge Velte (CDU) der Forderung nach einer staatsfreien Familienpolitik an. Auch sie plädierte für die Anerkennung der unterschiedlichen Familienformen, wenn auch Ehe und Familie aus ihrer Sicht der beste Ort für das Aufwachsen von Kindern sei. Dem verständlichen Wunsch nach zusätzlicher Familienförderung stehe zur Zeit keine finanziellen Spielräume gegenüber, so dass allenfalls durch geänderte Prioritätensetzung Mittel geschaffen werden könnten.
Der von allen unterstrichenen Forderung, dass Familienförderung nicht nur fiskalisch, sondern vor allem strukturell insbesondere zugunsten der Kinderbetreuung erfolgen solle, schloss sich auch die grüne Landtagsabgeordnete Evelyn Schönhut-Keil an. Sie plädierte für die Bekämpfung der Kinderfeindlichkeit in der Gesellschaft und für eine tatsächliche Wahlfreiheit beim Kinderwunsch. Dazu bräuchte es auch flexiblere Arbeitszeiten. In der Diskussion wurde deshalb auch die Mitwirkung der Unternehmer bei der Schaffung einer familienfreundlichen Gesellschaft betont.
Bei der von der Landtagsabgeordneten Erika Fellner, Vorsitzende der Kirchenkommission der SPD Hessen, und den beiden Akademiedirektoren Dr. Hermann Düringer (Evangelische Akademie Arnoldshain) und Dr. Ansgar Koschel (Katholische Akademie Rabanus Maurus) moderierten Diskussion zeigten sich interessante, unterschiedliche Akzente beim Familienbild, aber große Einigkeit bei der Forderung nach einer stärkeren, gesellschaftlichen Förderung von Familien.