Ypsilanti: CDU will Ellenbogengesellschaft

Rede von Andrea Ypsilanti zum Antrag betreffend Abkehr der CDU von einer sozialen Gesellschaftspolitik im Hessischen Landtag vom 18. Dezember 2003. Es gilt das gesprochene Wort.

„Eigentlich können die Bundesregierung in Berlin und wir als Opposition im Hessischen Landtag froh sein über den CDU-Parteitag in Leipzig. Denn bei aller Inszenierung von Frau Merkel als zukünftige starke Frau der CDU haben Sie klar gemacht, wo mit Ihnen die Reise in dieser Bundesrepublik hingehen würde. In eine ungerechte, kalte Ellenbogengesellschaft, wo nur das Recht des Stärkeren gilt. Deshalb sollten wir uns in der heutigen Debatte nicht um den inneren Zustand der CDU, die Frage, wer Kanzlerkandidat wird, die Befindlichkeit des Herrn Seehofer oder des Herrn Blüm kümmern. Sondern wir sollten uns mit der wahren Botschaft Ihres Parteitages befassen. Es geht um die Weichenstellung des gesellschaftspolitischen Systems der BRD.

Die von der Union beschlossene Kopfpauschale – neuerdings heuchlerisch als Gesundheitsprämie tituliert – also auf deutsch Kopfprämie auf Krankheit, signalisiert mehr als den Abschied vom sozialen Prinzip der bundesrepublikanischen Nachkriegsgeschichte. Es ist ein gewollter und bewusster Paradigmenwechsel. „Das ist nicht meine Welt“ hat dazu nicht Ottmar Schreiner sondern Norbert Blüm zu Recht erklärt. Es ist, wie der Begriff Kopfprämie unverhüllt auf den Punkt bringt, die Welt des wilden Westens, des Stärkeren, des Mächtigen, des Skrupellosen und Schnelleren.

Wenn Angela Merkel unverhohlen offen auf dem CDU Parteitag erklärt, es sei sozial gerecht, wenn der Vorstandsvorsitzende genauso viel Gesundheitsprämie zahle wie der Pförtner seines Unternehmens, wenn sie die gleiche Gesundheitsleistung bekommen, dann meine Damen und Herren, blendet die CDU Vorsitzende nicht nur jede soziale und gesellschaftliche Realität aus, sondern sie sagt, um im Bild des wilden Westens zu bleiben: Es ist schon so, wenn die Cowboys Gewehre haben und im Fort bleiben, die Indianer haben ja Pfeil und Bogen, sind also auch bewaffnet.

Flankiert oder besser getoppt wird die Kopfprämie vom Steuerkonzept von Merz. Die absolute Mogelpackung eines angeblich gerechten Steuersystems. Aber was ist daran gerecht, wenn Spitzenverdiener mit der Senkung des Spitzensteuersatzes wesentlich stärker entlastet werden als mittlere und untere Einkommen? Und wenn diese Entlastung der Spitzenverdiener erkauft wird mit der Abschaffung von Sonn-, Feiertags und Schichtzuschlägen und Sparfreibeträgen, was genau die unteren und mittleren Einkommen zusätzlich belastet?

Und dann ist Ihr Steuersystem immer noch unterfinanziert: Es gibt immer noch eine Finanzierungslücke von 22-25 Mrd. Euro. Beim Konzept der Kopfpauschale fehlen Ihnen auch noch mindestens 30 Milliarden für Transferzahlungen. Beide Konzepte zusammen bedeuten eine 55 Mrd. Euro-Deckungslücke.

Mit dem Leipziger Parteitag, meine Damen und Herren, hat sich Frau Merkel als Frau Thatcher der Bundesrepublik stilisiert. Kein Wunder, dass dann für Herrn Koch nur noch die Rolle des Pantoffelhelden übrig bleibt. Obwohl er sich doch in Hessen alle Mühe gibt nach dem Prinzip – dem Adel gut, den Armen weh.

Und deshalb muss das auch den Hessischen Landtag beschäftigen. Wenn die CDU einerseits ihre christlich-kulturelle-geistige Tradition aufgibt und gleichzeitig die Probe aufs Exempel ausgerechnet in Hessen vorexerziert wird.

Liebe Kollegen von der christlich-demokratischen Union. Ich will ja hier und heute auch nicht verschweigen, dass es auch in der Sozialdemokratie heftige Kontroversen über den richtigen Umgang mit den Herausforderungen der Globalisierung gibt. Aber eines käme bei uns nicht in Frage: Das man gleich das komplette historische Erbe von Lassalle bis Willy Brandt in den Abfall der Geschichte entsorgt. Schmerzt es Sie denn gar nicht, die große Tradition der katholischen Soziallehre und Ethik, von Keppler und Kolping bis hin zu Eugen Kogon, auf dem Gabentisch der neoliberalen Ideologie zu opfern? Und ich finde es auch beschämend, wie Sie mit Kritikern und Mahnern in den eigenen Reihen wie Seehofer, Geisler und Blüm umgehen.

Seit dem Leipziger Parteitag streiten wir offensichtlich nicht mehr um den besseren Weg zum gerechten Sozialstaat. Seit „Maggi Merkels Putsch“ gegen alle Tradition der katholischen Soziallehre streiten wir offen über die Frage: Sozial ausgewogene Reformen des Sozialstaats oder Neoliberalismus mit Ellenbogenmentalität. Diese Auseinandersetzung werden wir Sozialdemokraten mit Ihnen Herr Koch in Hessen und, wenn Sie wollen, auch mit bundespolitischen Themen mit großem Selbstbewusstsein führen.“

Herr Ministerpräsident, ziehen Sie sich warm an. Die hessische SPD wird Sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Wir führen jede Auseinandersetzung mit Ihnen und der CDU mit Selbstbewusstsein, mit großem Engagement und mit der Sicherheit, dass wir uns einig sind mit der Mehrheit der Menschen in Hessen.“