Ypsilanti: Bürgerversicherung, Familienpolitik und Bildung voran stellen

Hier dokumentieren wir das Interview mit der Oberhessischen Presse im Wortlaut:

Oberhessische Presse (OP): Renate Künast möchte mit ihren Grünen "die Welt retten". Franz Müntefering will "den Ball flach halten", das aber in "einem Jahr der Entschlossenheit". Können Sie für die ratlosen Bürger das Ergebnis der rot-grünen Klausur von Wörlitz übersetzen?

Andrea Ypsilanti: Die rot-grüne Bundesregierung hat ein enormes Reformtempo vorgelegt. Das lässt sich nicht über eine ganze Legislaturperiode durchhalten, weil Reformschritte wohl überlegt sein müssen. Derzeit wird an mehreren Projekten gearbeitet: die Weiterentwicklung des Steuerrechts, die Umgestaltung der Pflegeversicherung und eine verbesserte Familienförderung stehen in der Diskussion. Da gibt es noch eine Menge zu tun. Es wird sicher kein Jahr des Stillstandes geben. Auch die Vorstellungen der Grünen zur Kerosin-Besteuerung und zur Halbierung der Mehrwertsteuer für Bahnfahrkarten bleiben in der Diskussion. Der Finanzminister, der das bezahlen muss, ist Sozialdemokrat und heißt Hans Eichel. Der denkt darüber natürlich einen Takt länger nach als eine Partei, die nur das Umwelt- und das Außenressort hat.

OP: Mit ihrem Bestreben, die Pflegeversicherung zu reformieren, nähert sich die Koalition dem wichtigsten Zukunftsthema demographische Entwicklung an. In welche Richtung geht die Diskussion – bekommen wir japanische Verhältnisse, wo Kinderlosigkeit zum Armutsrisiko im Alter wird?

Ypsilanti: Das glaube ich nicht. Jeder weiß, dass die Pflege reformiert werden muss – dazu zwingen die finanzielle Entwicklung und die ständig steigende Zahl demenzkranker Patienten. Es reicht nicht, von Zeit zurzeit die Beitragssätze für die Pflegeversicherung zu erhöhen. Deshalb finde es richtig, wenn Franz Müntefering sagt, dass wir über eine reformierte Pflegeversicherung hinaus ein umfassendes Gesamtkonzept dafür brauchen, wie die Menschen im Alter in der Bundesrepublik leben sollen.

OP: Werden Sie als Architektin der solidarischen Bürgerversicherung dabei sein, wenn dieses Gesamtkonzept entwickelt wird? Schließlich gibt es gemeinsame Schnittmengen.

Ypsilanti: Es gibt Diskussionen, die auf eine Zusammenführung von Pflege- und Bürgerversicherung abzielen. Unser hessisches Konzept für die solidarische Bürgerversicherung sieht das zwar nicht vor, aber es spricht nichts dagegen, das gemeinsam zu überlegen. Konkrete Überlegungen in diese Richtung gibt es noch nichts. An konstruktiven Diskussionen, wie Belastungen gerecht und solidarisch verteilt werden sollen, beteiligt sich die SPD in Hessen immer gerne.

OP: Wie positioniert sich die hessische SPD zu der im November anstehenden Entscheidung über die Zukunft der Wehrpflicht?

Ypsilanti: Dazu gibt es in der SPD noch keine abgeschlossene Diskussion. Ich ganz persönlich bin für eine Freiwilligen-Armee…

OP: …nach dem dänischen Modell?

Ypsilanti: Wer Soldat werden möchte, soll Eintrittszeitpunkt und Dauer der Dienstzeit selbst bestimmen können.

OP: Haben Sie eine Ahnung, zu welchem Ergebnis die Diskussion führen wird?

Ypsilanti: Ich habe das Gefühl, dass die Wehrpflicht gerade im Hinblick auf die Frage der Wehrgerechtigkeit zunehmend in Frage gestellt wird. Es gab und gibt dazu viele Diskussionen, die auch in unserer Programm-Debatte – die SPD gibt sich bald ein neues Programm – eine wichtige Rolle spielen werden. Wir sind in dieser Frage absichtlich noch nicht zu festen Positionen gekommen, weil diese grundsätzliche Frage alle Parteien miteinander diskutieren sollten.

OP: Die Umsetzung der solidarischen Bürgerversicherung soll nicht mehr in dieser Legislaturperiode angegangen werden. Bedauern Sie das?

Ypsilanti: Nein, weil ich glaube, dass die künftige Gestaltung des Krankenversicherungssystems ein gutes Wahlkampfthema sein wird. Hier prallen zwei sehr unterschiedliche Konzepte aufeinander: Die Kopfpauschale der Union auf der einen Seite und die solidarische Bürgerversicherung mit der Belastung Gutverdienender und Großverdiener bei gleichzeitiger Entlastung kleinerer Einkommen auf der anderen Seite. Diesen Unterschied kann man diskutieren und der Bevölkerung zur Wahl stellen Dafür bin ich auch.

Meine Befürchtung wäre gewesen, wenn wir aus unserem Entwurf ein Gesetzesvorhaben gemacht hätten, dass es dann möglicherweise im Bundesrat gescheitert wäre. Ich finde, wir sollten mit unserem eindeutigen Konzept in die Bundestagswahl gehen und die Bürgerinnen und Bürger in dieser wichtigen Zukunftsfrage mitentscheiden lassen.

OP: Taugt dieses sehr komplexe Thema wirklich zu einem Wahlkampf-Schlager? Thomas Spies hat dieser Redaktion in einem Hintergrundgespräch Ihr Modell vorgestellt und dafür eine gute Stunde gebraucht. So lange hört der geduldigste Wähler nicht zu…

Ypsilanti: Thomas Spies hat einen Satz geprägt, der den Kern der solidarischen Bürgerversicherung ausdrückt: "Alle zahlen von Allem den gleichen Anteil." Das ist ein sehr eingängiger Satz, unter dem sich jeder etwas vorstellen kann. Von allen Einkünften müssen die Versicherten den gleichen prozentualen Anteil an die Bürgerversicherung abführen. Das ist eine wirklich griffige Formel.

OP: Seit Angela Merkel in Berlin die Männer weglaufen hat sich die demoskopische Großwetterlage für Ihre Partei aufgehellt. Was rät die SPD-Linke Andrea Ypsilanti der Berliner SPD-Führung, damit dieser Trend bis zum Herbst 2006 anhält?

Ypsilanti: Ich bin sehr zufrieden, wie das politische Geschäft derzeit in der Partei gehandhabt wird. Wir haben die richtigen Themen vorangestellt: Die Bürgerversicherung, die Bildungspolitik, die Familienpolitik. Was wir meiner Meinung nach noch angehen müssen ist eine gerechtere Steuerpolitik. Eine familienfreundlichere Politik und eine zukunftsfähige Bildungspolitik erfordern sehr große Anstrengungen, an der sich alle finanziell beteiligen müssen.

OP: Über Steuererhöhungen?

Ypsilanti: Über eine größere Belastung der starken Schultern. Ich halte es für komplett falsch, dass Hessens Ministerpräsident Roland Koch die Föderalismusverhandlungen an der Frage der Bildungspolitik hat platzen lassen. Ich glaube, dass sich unser Bildungssystem nur in einer großen Gemeinschaftsaufgabe auf den wünschenswerten Stand bringen lässt. Das können weder der Bund, noch die Länder noch die Kommunen alleine bezahlen. Koch und die unionsregierten Länder reklamieren die alleinige Bildungshoheit für sich. Dann kann der Bund aber auch nicht mehr helfen, wie das jetzt mit den vier Milliarden Euro für die Ganztagsschulen geschieht. So etwas läuft dann nicht mehr, und das halte ich für eine Katastrophe. Deshalb finde ich es richtig, dass Franz Müntefering sagt: Bei Bildung und Hochschule wollen wir im Bund Mitspracherecht haben.

Wenn wir unser Bildungssystem optimieren wollen, müssen wir auch sagen, wie wir dies finanzieren. Dieser Staat ist momentan deutlich unterfinanziert. Wir sind kein Hochsteuerland, und so müssen wir über unsere Steuereinnahmen reden. Das Thema Vermögen- und Erbschaftssteuer blieb bislang außen vor. Ich bin dafür, dass wir in kürzester Zeit genau darüber reden.

OP: In Hessen fordern sich von der CDU-Alleinregierung mehr Haushaltsdisziplin und die Vorlage eines verfassungskonformen Haushalts. Gleichzeitig beklagen sie die Einsparungen der Regierung Koch. Wie passt das zusammen?

Ypsilanti: Das passt zusammen, denn wir hätten einen komplett anderen Haushalt vorgelegt. Wir hätten in der ersten Legislaturperiode der Regierung Koch, als diese wesentlich mehr Geld zur Verfügung hatte, als die letzte SPD-geführte Landesregierung, das Geld nicht so einfach verpulvert. Zudem hätten wir in unserer Haushaltsvorlage eindeutig Prioritäten in Bildung und Soziales gesetzt. Wir hätten das Geld nicht in SAP-Software, in den Frankfurter Rennclub oder in den Kauf eines Schlosses im Odenwald investiert.

OP: Wobei man mit diesen Geldern den Landeshaushalt nicht retten kann.

Ypsilanti: Nein, aber das sind Symbole, und die sind ganz wichtig für die Bevölkerung. Die Menschen wollen wissen: Wo wird etwas eingespart, wo wird etwas ausgegeben. Wenn der Ministerpräsident allen Ministerien Mehrausgaben für ihre Öffentlichkeitsarbeit genehmigt und gleichzeitig 30 Prozent Einsparungen bei den Sozialausgaben verfügt, ist das nicht hinnehmbar. Daraus sind in ganz Hessen Riesenprobleme für die Jugendarbeit, für die Schuldnerberatung, in der Integrationsarbeit erwachsen. Das hätten wir niemals gemacht. Auch die SPD-geführte Landesregierung musste sparen, aber das Sozialbudget haben wir nie angetastet, damit die Initiativen, Verbände und Vereine ihre Arbeit und ihre Zukunft berechenbar planen konnten. Das können sie heute nicht mehr. Die warten schon darauf, dass die nächste Streichorgie kommt. Für uns galt immer die Schwerpunktsetzung: Familie, Bildung und Soziales.

OP: Wobei der Riesenapparat Schule zuletzt von der Hessen-SPD nicht gerade großartig gemanagt wurde.

Ypsilanti: Stimmt, das will ich gar nicht unter den Teppich kehren. Wir hatten das Problem der Unterfinanzierung. Wir hätten mehr Lehrer einstellen müssen, was das Kabinett aufgrund der Haushaltslage nicht getan hat. Das war aus meiner Sicht ein Fehler. Von der bildungspolitischen Ausrichtung lag unser Kultusminister Hartmut Holzapfel richtig. Er hat die gleiche Schulpolitik vorangetrieben, die die Pisa-Siegerländer auszeichnet.

OP: Die hessische Schulpolitik läuft weitgehend dem zuwider, was die Pisa-Siegerländer laut OSZE-Studie so erfolgreich gemacht hat. Ist das der Punkt, wo Sie Roland Koch jagen wollen?

Ypsilanti: Auf jeden Fall! Das Thema wird den nächsten Wahlkampf beherrschen. Wir sind schon ziemlich weit in unserer schulpolitischen Konzeption, haben eine Vorstellung von frühkindlicher Bildung, von Ganztagsschule, wir haben eine Vorstellung, wie man Schule in Hessen zukunftsfähig gestalten kann. Unser Konzept dazu haben wir auf dem letzten Landesparteitag beschlossen. Derzeit erörtern wir unser Konzept mit den Fachleuten – den Lehrern, den Eltern und den Schülern. Das Ergebnis dieser Beratungen fließt in unser Programm ein. Die an Pisa beteiligten Wissenschaftler haben wir mit unseren Konzept bereits auf unserer Seite. Roland Koch bezeichnet diese Wissenschaftler als Ideologen. Diese Auseinandersetzung nehmen wir gerne an.

OP: Heißt das, dass Sie den alten hessischen Schulkampf wieder beleben wollen?

Ypsilanti: Nein! Wir wollen eine neue Bildungsreform und nicht zurück in die alten Grabenkämpfe. Da steckt uns die CDU natürlich gerne hin, die uns die Durchsetzung einer „Zwangs-Ganztags-Gesamtschule" unterstellt. Die Ganztagsschule ist längst ein Selbstläufer geworden. Die wenigen guten Ganztagsschulen, die es in Hessen gibt, können sich vor Anfragen kaum retten. Das hat selbst die CDU inzwischen eingesehen, die sich von ihrer Vorstellung gelöst hat, dass Kinder nachmittags ausschließlich in die Familie gehören.