Dr. Hermann Scheer (SPD-ZUKUNFTSTEAM Wirtschaft und Umwelt) zeigt Alternativen zum geplanten Kohlekraftwerk Staudinger auf

„1. Das geplante neue Großkraftwerk Staudinger in Großkrotzenburg (Block 6) mit einer elektrischen Gesamtbruttoleistung von 1100 MW enthält unwägbare ökonomische Risiken und untragbare ökologische Risiken. Beides ist angesichts gegebener Alternativen nicht zu rechtfertigen. Diese liegt generell in der Regionalisierung der Stromerzeugung und damit auch in der räumlichen und sozialen Verteilung der damit verbundenen wirtschaftlichen Wertschöpfung.

Die konkrete Alternative sollte einen Schwerpunkt am Standort Großkrotzenburg haben,

  • um dort den Arbeitsplätzen (gegenwärtig 420) im Bereich der gegenwärtigen Stromerzeugung auch unter veränderten Vorzeichen eine Perspektive zu geben,
  • um dort vorhandene Infrastrukturen – soweit wie nötig und möglich – weiter nutzen zu können.

    2. Das unwägbare wirtschaftliche Risiko besteht darin, dass

  • die Kraftwerkskosten für Großkraftwerke deutlich steigen,
  • die Kohlepreise in den nächsten Jahren voraussichtlich stark ansteigen,
  • für die Kraftwerksbetreiber erhebliche Kosten für den Erwerb von Emissionsrechten unausweichlich sind.

    Diese Risiken muss zwar der Betreiber E.on mit sich selber ausmachen. Soweit jedoch eine öffentliche Entscheidung und dafür erforderliche Legitimation im Spiel ist, kann nicht ignoriert werden, dass demgegenüber die Kosten für alle auf Energieeffizienzsteigerung und erneuerbare Energien gerichteten Investitionen sinken.

    3. Die ökologischen Risiken sind

  • eine deutlich erhöhte CO2-Emission über einen Zeitraum von vier Jahrzehnten und damit eine dauerhafte Zusatzbelastung für das ohnehin schwer schadstoffbelastete Rhein-Main-Gebiet. Die Folgen für das Wasser (Wasserverluste durch Kühlung, Veränderung der Gewässerökologie durch Erwärmung, Gewässerübersäuerung) und Gesundheitsschäden durch Cadmium-, Quecksilber-, Arsen-, Nickel-, Blei-, Staub-, Schwefeloxid- und Stickoxid-Emissionen und weiteres Waldsterben. Die zusätzlichen Belastungen wären in jedem Fall durch den Block 6 vorprogrammiert: Block 6 soll die Blöcke 1-3 ersetzen, die maximal 4 Mrd. KWh erzeugen – von insgesamt 5 Mrd. am Produktionsstandort. Block 6 soll 9 Mrd. produzieren, infolgedessen also die Gesamtproduktion am Standort verdoppeln.
  • Die für die Zukunft versprochene CO2-Sequestrierung („saubere Kohle“) ist am Kraftwerk ein hoffnungsloses Unterfangen. Es konterkariert alle Effizienzziele und kann die Frage der Endlagerung von CO2 nicht in akzeptabler Form beantworten – es sei denn zu astronomischen Kosten.

    4. Die Alternative auf Grund einer sozialen, gesamtwirtschaftlichen und gesamtökologischen Bewertung, an der sich eine von uns geführte Landesregierung orientieren würde, geht davon aus, dass anstelle des Blocks 6 mit 1100 MW ohnehin nur eine Kapazität von maximal 700 MW erforderlich wäre. 400 MW wäre der Anteil des gedachten Partners der Stadtwerke Hannover, die gemäß unserer Zielsetzung einer Dezentralisierung der Produktion andernorts erstellt werden müssten – zumal Niedersachsen dünner besiedelt und weniger ökologisch belastet ist als Hessen.

    Von den verbleibenden 700 MW würden wir 300 MW unter der Bedingung genehmigen, dass eine volle energetische Wärmeauskopplung stattfindet. Diese 300 MW Fernwärme entsprechen der derzeitigen Planung. Damit reduziert sich der tatsächliche Ersatzbedarf auf maximal 400 MW.

    Es handelt sich dabei um eine jährliche Produktionsleistung von etwa 3,3 Mrd. Kilowattstunden. Dieses Produktionspotential kann erreicht werden, indem folgende Optionen systematisch und in kombinierter Form der erneuerbaren Energien und der Kraft-Wärme-Kopplung (mit Biogas oder einstweilen Erdgas) eröffnet werden:

  • die optimierte Verwertung der organischen Abfälle vor Ort, die bei ihrer Vergärung zu Biogas und anschließender Verstromung 20 % des Strombedarfs in allen dicht besiedelten Regionen decken kann. Zum Beispiel produziert die Rhein-Main-Deponie (RMD) in Flörsheim allein durch die Nutzung von Deponiegas-, Biogas- und weiteren Biomassekraftwerken bereits 150 Mio. KWh Strom (50.000 Haushalte) und weitere 175 Mio. Wärmeleistung, womit Erdgas oder Erdöl in Heizungen ersetzt werden. Der Ausbau ist noch nicht abgeschlossen. Bisher sind installiert: 15 MW Biomasse-Holzverbrennungsanlage, 5,5 MW Deponiegas, 2 MW Biogas. Hinzu kommen demnächst 20 MW energetische Müllverwertung, mit der die Stromproduktionsleistung verdoppelt wird.

    Die derzeit eingesetzten Arbeitsplätze liegen bei 50 allein für die Stormproduktion (ohne diejenigen für die Müllsammlung, Holzsammlung). Das zeigt, dass das Arbeitskraftpotential pro 10 Million KWh Stromerzeugung bei konventionellen Kraftwerksbetriebne bei etwas unter einem Beschäftigten liegt, bei Biomasse-Kraftwerken dagegen bei dem dreifachen!

    Realistisch erscheint, dass unter Ausnutzung vorhandener Infrastrukturen und bei gleichzeitigem Ausbau von Biogasanlagen aus nachwachsenden Rohstoffen etwa 25 % des Produktionspotentials im Main-Kinzig-Kreis realisiert werden könnte. Das wären allein im Kraftwerksbetrieb 250 Beschäftigte, neben denen in 300 MW-Fernwärme-Kraftwerk, so dass per saldo keine Arbeitsplatzverluste trotz einer Reduzierung des Blocks 6 auf die 300 MW und einer Stilllegung der Blöcke 1-3 ab 2012 im Main-Kinzig-Kreis eintreten würden.

    Mehr noch: Hinzu kommt der Beschäftigungsbedarf in der Landwirtschaft durch den Anbau nachwachsender Rohstoffe. Eine 5 MW-Biogasanlage hat Investitionskosten von 1,5 Mio. produziert 16 Mio. KWh und beschäftigt drei Arbeitsplätze im Betrieb und über 30 in der Landwirtschaft.

  • Zu den Elementen des Ersatzes gehört selbstverständlich auch die Wasserkraft, die Photovoltaik und die Windkraft, wie es im Programm „Neue Energie für Hessen“ beschrieben ist. Es bleibt absurd, dass die hessische CDU den neuen Staudinger-Block befürwortet, der einen 180 m hohen Kühlturm haben soll und ein 120 m hohes Kesselhaus (so hoch wie der Henninger-Turm in Frankfurt), und in dem stündlich 385 t Kohle verbrannt werden sollen – aber gegen Windkraftanlagen mit geringerer Höhe und ohne jede Emission in schon sprachlich völlig enthemmter Weise zu Felde zieht.“