
Kein neues Miteinander, kein Stilwechsel – knapp 100 Tage nach Amtsantritt des neuen Ministerpräsidenten Volker Bouffier sind die Regierungsaktivitäten der Koalition der SPD-Fraktion zufolge völlig zum Erliegen gekommen. "Die Arbeitsteilung ist die alte: Die Regierung ist für die Skandale zuständig und die Opposition für die Inhalte", sagte der Vorsitzende der hessischen SPD-Landtagsfraktion und der Hessen-SPD, Thorsten Schäfer-Gümbel, am Donnerstag bei einer Pressekonferenz anlässlich der 100-Tage-Bilanz des Ministerpräsidenten. Herr Bouffier habe in den knapp drei Monaten nicht eine einzige inhaltliche Initiative von nennenswertem Gewicht ergriffen. "Wie man in einem Vierteljahr so wenig handeln kann, ist mir völlig schleierhaft", sagte Schäfer-Gümbel in Wiesbaden.
Während bei der SPD mit dem Schulgesetz, dem Mittelstandsförderungsgesetz, dem HAFÖG, dem Anti-Korruptionsgesetz, dem Gesetz zur Bürgerbeteiligung, dem Gesetz zur Förderung der Medienkompetenz allein sechs Gesetzesinitiativen auf den Weg gebracht worden seien, rühre sich auf Seiten der Regierungskoalition rein gar nichts. "Wir fragen uns schon, ob Bouffier kommende Woche den Reset-Knopf drücken will, um seine Regierungszeit noch einmal von vorne zu beginnen und diesen Fehlstart auszubügeln", so Schäfer-Gümbel.
Offenbar habe es der Ministerpräsident bislang vorgezogen, bei gesellschaftlichen Empfängen und Veranstaltungen zum Teil oberflächliche Reden zu halten, anstatt in Wiesbaden zu regieren. "Hessen braucht mehr als einen Frühstücksministerpräsidenten, der das Land durch eine rosa Brille sieht", so Schäfer-Gümbel. So zeuge es von wenig Sachkenntnis, Finanzexperten mit Platitüden über den Finanzplatz Frankfurt zu konfrontieren. "Niveaulimbo ist ja gerade zum Jugendwort des Jahres gewählt worden – deshalb muss es aber noch lange nicht die einzige Disziplin sein, in der die Regierung von Herrn Bouffier auf sich aufmerksam macht." Im Grunde habe sich die Inhaltsleere der vergangenen knapp 100 Tage bereits in der Regierungserklärung des Ministerpräsidenten am 7. September angekündigt. "Schon damals hatte Bouffier nicht mehr anzukündigen, als seinen neuen Stil und den Rettungsschirm für die Kommunen", so Schäfer-Gümbel. Und beides habe er nicht zustande gebracht.
Auch die neuen Minister hätten sich mühelos in das farblose Bild des alten Kabinetts eingefügt. "Das ganze Kabinett erinnert ein wenig an die grauen Herren aus Michael Endes Kinderbuch "Momo". Sie stehlen einem die Zeit und lassen alles in Gleichgültigkeit versinken", so der hessische SPD-Politiker.
Die Kernpunkte der ersten 100 Tage Bouffier:
Rechtsruck statt "Miteinander"
Statt ein "neues Miteinander" einzuleiten, begibt sich Volker Bouffier in alter Manier an den rechten Rand des Meinungsspektrums. Bouffier stellt sich hinter die für ihre wiederholten Grenzverletzungen berüchtigte Funktionärin des Bunds der Vertriebenen, Erika Steinbach, und verbrüdert sich mit dem als Islamfeind bekannten CDU-Fraktionsvize Hans-Jürgen Irmer. "Das riecht nach einer Wiederauflage der Spalter-Politik des CDU-Stahlhelmflügels", so Schäfer-Gümbel. Darüber hinaus siniere Bouffier laut und für alle in der Zeitung lesbar selbst über die angebliche Massenzuwanderung aus der Türkei, "die die Gesellschaft nicht verträgt". Auch von den hochkritischen und geschichtsklitternden Äußerungen eines anderen CDU-Mitglieds, nämlich Egbert Schellhase von der Union der Vertriebenen, habe sich Bouffier nicht distanziert. Schellhase hatte mit seiner revisionistischen Aussage, die Bundesrepublik habe sich ihr Geschichtsverständnis von den Siegermächten diktieren lassen, für Aufregung gesorgt. Den Satz hatte Schellhase zwar auf Grund eines Briefes der SPD-Fraktion an den Ministerpräsidenten zurückgenommen – Bouffier hatte den Fall dann für erledigt erklärt ohne sich allerdings inhaltlich zu positionieren.
Tohuwabohu-Politik statt "neuem Stil"
Widersprüche und Orientierungslosigkeit bestimmen den neuen Stil der Regierung. Um in der Atompolitik ein einheitliches Bild nach außen zu präsentieren, bedarf es der Interpretationshilfe von Regierungssprecher Michael Bußer. Er erklärt im Handumdrehen, zwischen den Aussagen des Ministerpräsidenten, Hessen sei als Standort zur Zwischen- und Endlagerung von Atommüll denkbar, und denen der Umweltministerin Lucia Puttrich, die ein Endlager in Hessen ablehnt, bestünde "kein Widerspruch". "Kompetenz sieht anders aus. Es herrschen das alte Gegeneinander und das übliche Durcheinander statt des von Bouffier angekündigten neuen Stils", so Thorsten Schäfer-Gümbel. Bouffiers Äußerungen zur Atompolitik seien in erster Linie von völliger Unkenntnis geprägt. Auch im zweiten Akt des Atomtheaters macht Bouffier keine gute Figur. Nach großem Getöse und Forderung nach einer Beteiligung des Landes Hessen an den Einnahmen der Brennelementesteuer, lässt er sich von der Kanzlerin über den Tisch ziehen und stimmt ohne feste Zusage im Bundesrat für die Verlängerung der Kraftwerkslaufzeiten. "Damit hat Bouffier eindeutig Parteiräson über Landesinteressen gestellt", so Schäfer-Gümbel.
Im Innenministerium wird Bouffier derweil von seinen Skandalen eingeholt. Von vielen Seiten, darunter auch Innenminister Rhein, wird der alte Führungsstil im hessischen Polizeiapparat kritisiert. "Diesen hat Ministerpräsident Bouffier in seiner Zeit als Innenminister implementiert", so Schäfer-Gümbel. Dass sich Bouffier zu diesen Vorwürfen nicht äußern wolle, spreche Bände. Einzig bei der Schuldenbremse habe Bouffier eine tatsächliche Einigung erzielen können, so Schäfer-Gümbel.
Skandale & Vetternwirtschaft statt Transparenz
Bei den Skandalen macht die Regierung Bouffier dort weiter, wo die Regierung Koch aufgehört hat. Seit dem 1. September mussten bereits zwei führende Beamte im Polizeiapparat ihren Hut nehmen: der ehemalige hessische Polizeichef Norbert Nedela, ein enger Vertrauter Bouffiers im Innenministerium, wurde wegen "Differenzen in Fragen der Führung der Polizei" in den einstweiligen Ruhestand versetzt, die von Bouffier berufene LKA-Präsidentin Sabine Thurau wegen staatsanwaltlicher Ermittlungen wegen Falschaussage und Verfolgung Unschuldiger ihres Amtes enthoben und ins Innenministerium versetzt. Selbst von seinem Nachfolger und ehemaligen Staatssekretär Boris Rhein musste Bouffier unterschwellige Kritik einstecken. Der nämlich sprach wiederholt von einer neuen Führungskultur, die in der Polizei Einzug halten solle. "Das System Bouffier im Innenministerium scheint zu implodieren. Wer weiß, was dort noch ans Tageslicht befördert wird", so Thorsten Schäfer-Gümbel. Hochgekocht sind bislang nicht nur die repressiven und hierarchischen Strukturen in der hessischen Polizei, in der unliebsame Kollegen offenbar mittels Gefälligkeitsgutachten von Psychologen aus dem Dienst entfernt wurden, sondern auch, dass über Jahre geheime Akten geführt wurden.
Auch bei der Vergabe öffentlicher Aufträge muss sich die Regierung Bouffier gegen immer neue Vorwürfe rechtfertigen. Bei der Vergabe des Auftrags zum Aufbau des digitalen Polizeifunks wurde nicht aus dubiosen formalen Gründen die teurere Firma Götzfried bevorzugt, in der der CDU-Fraktionschef Christean Wagner im Aufsichtsrat sitzt. Fragwürdig erscheint auch der Direkt-Auftrag zum Aufbau des Netzes an Charlotta Flodell. Die Berliner Sozialwissenschaftlerin sei einzigartig qualifiziert, hieß es. In Berlin ist man jedoch mit ihren Tätigkeiten beim Aufbau des Berliner Digitalfunknetzes wenig zufrieden. Nach der Empfehlung des Ministerpräsidenten Bouffier hatte man sich für sie entschieden. Flodell war nach Medieninformationen mit Werner Hardtke liiert, der damals als Leiter des HZD für die Auftragsvergabe verantwortlich war.
100 Tage Bouffier – eine Chronologie
1. September 2010
Bouffier wird als neuer Ministerpräsident Hessens vereidigt.
9. September 2010
Bouffier kommt Aufforderungen, sich von den reaktionären Äußerungen Erika Steinbachs zu distanzieren, nicht nach. Die Bundestagsabgeordnete und Vorsitzende des Bundes der Vertriebenen hatte Äußerungen von BDV-Funktionären, Polen trage eine Mitschuld für den Zweiten Weltkrieg, verteidigt.
7. September 2010
Bouffier spricht in seiner ersten Regierungserklärung von einem "Miteinander" und gibt den Landesvater. "Neue inhaltliche Schwerpunkte sind dagegen Mangelware", schreibt die Frankfurter Rundschau.
10. September 2010
Bouffier ruft sich zum Spitzenkandidaten der CDU im Landtagswahlkampf 2013 aus.
12. September 2010
Bouffier bedauert Ausscheiden von Erika Steinbach aus dem Bundesvorstand der CDU und lobt ihre Verdienste.
16. September 2010
Bouffier distanziert sich auch nach den beleidigenden Äußerungen Erika Steinbachs über den Ausschwitz-Überlebenden und polnischen Deutschland-Beauftragten Wladyslaw Bartoszewski nicht.
Bouffier besucht die Frankfurter Tafeln und verweigert danach beim Deal um die Hartz-Gesetze Kindern eine angenmessene Teilhabe.
21. September 2010
Bouffier will sich für handwerks- und mittelstandsfreundliche Regeln für die Auftragsvergabe bei staatlichen Projekten einsetzen. Die EU-Vorgaben müssten regionalen Firmen einen fairen Wettbewerb ermöglichen.
6. Oktober 2010
Bouffier spricht in Integrationsfragen mit gespaltener Zunge. Während er im Bundestag mit einem weichgespülten Redebeitrag an der integrationspolitischen Debatte teilnimmt, befeuert er in Hessen mit seinen integrationsfeindlichen Äußerungen und ausländerfeindlichen Aktionen die Spaltung der Gesellschaft.
11. Oktober 2010
Bouffier spricht in Radio-FFH von Deutschen-Diskriminierung.
13. Oktober 2010
Bouffiers Hinterlassenschaften im Innenministerium werden publik. In der Polizei sollen schwarze Akten gegen unliebsame Mitarbeiter geführt und Kollegen gemobbt worden sein. Innenminister Boris Rhein mahnt eine neue Führungskultur in der Polizei an.
14. Oktober 2010
Bouffier findet zu seiner alten Rethorik in Integrationsfragen zurück und sagt der FAZ: "Ich möchte keine Massenzuwanderung, etwa aus der Türkei, die diese Gesellschaft nicht verträgt."
17. Oktober 2010
Bouffier verfehlt ein in seiner Regierungserklärung betontes Ziel. Bei der Auswahl der ersten vom Bund geförderten Studiengänge fällt Hessen durch.
27. Oktober 2010
Gegen die von Bouffier eingesetzte LKA-Präsidentin Sabine Thurau wird staatsanwaltlich ermittelt, weil sie vor Gericht gelogen haben soll.
2. November 2010
Bouffiers Nachfolger, Innenminister Boris Rhein, feuert den Hessischen Polizeipräsidenten und engsten Bouffier-Vertrauten, Norbert Nedela, wegen schwerer Vorwürfe gegen die Polizeiführung und Unterschieden in Fragen des Führungsstils.
3. November 2010
Bouffier überrascht die Zuhörer des "CDU-Zukunftsforum Finanzplatz Frankfurt" mit der etwas blauäugigen Analyse, Frankfurt sei ein "fabelhaften Finanzplatz", der strukturell beste Chancen habe und sich vor europäischen Konkurrenten wie London und Paris nicht scheuen müsse.
Bouffiers Finanzminister Thomas Schäfer muss zugeben, dass es bei der Auftragsvergabe des Polizeidigitalfunks offenbar Unregelmäßigkeiten sowohl bei der Direkt-Vergabe der Leitungsfunktion an Charlotta Flodell, die von Bouffier empfohlen worden war, als auch bei der Ausschreibung des Auftrags an die Firma Götzfried gab, bei der der CDU-Fraktionsvize Christean Wagner im Aufsichtsrat sitzt.
9. November 2010
Bouffier moderiert erstes interfraktionelles Gespräch zur Schuldenbremse.
Die von Bouffier eingesetzte LKA-Präsidentin Sabine Thurau wird wegen der Polizeiaffäre von ihrem Amt entbunden. Der Ministerpräsident weicht Fragen aus.
10. November 2010
Bouffiers Umweltministerin Lucia Puttrich lehnt ein Endlager für Atommüll in Hessen ab.
11. November 2010
Bouffier stellt Hessen als Standort für die Zwischenlagerung und Endlagerung von Atommüll zur Disposition.
Bouffier besucht Brüssel.
Bouffier verleiht Integrationspreis und warnt vor Multi-Kulti-Gesellschaft.
Der unter Bouffier eingesetzte Frankfurter Polizeipräsident Achim Thiel gerät in den Strudel des Polizeiskandals.
12. November
Bouffiers Koalition verliert offiziell Rückhalt in der Wählerschaft. Eine Umfrage der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und Radio FFH zeigt: die CDU/FDP-Regierung erhält nur noch 37 Prozent der Stimmen (CDU: 32, FDP: 5). Rot-Grün liegt zusammen bei 51 Prozent. Die Frage nach dem beliebteren Landesvater gewinnt der ehemalige Innenminister mit 37 Prozent zu 32 Prozent nur knapp.
14. November 2010
Bouffier verleiht Hessischen Kulturpreis an Rebecca Horn.
15. November 2010
Bouffier wird in den Bundesvorstand der CDU gewählt.
16. November 2010
Knapp drei Milliarden Euro Neuverschuldung, Skandale bei der Polizei und Mehrheitsverlust bei Umfragewerten – Bouffier bezeichnet seine Politik in der Generaldebatte als "hervorragend".
18. November 2010
Bouffier schweigt im Landtag zur Polizeiaffaire.
23. November 2010
Bouffier verkündet Einigung über den Gesetzestext zur Schuldenbremse, in dem sich die SPD in maßgeblichen Punkten durchgesetzt hat.
24. November 2010
Bouffier löst Versprechen aus seiner Regierungserklärung vom 7. September ein und sucht bei einer einzigen Bürgersprechstunde in Karben "das Gespräch mit allen Menschen in allen Teilen Hessens".
Bouffier will sich zu möglichen Gefälligkeitsgutachten von Psychologen zur Diskreditierung unliebsamer Polizeibeamter und schwarzen Akten, also Vorgängen, die in seine Zeit als Innenminister fallen, nicht äußern.
26. November 2010
Bouffier verbrüdert sich im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau mit Islamfeinden, wie dem CDU-Fraktionsvize Hans-Jürgen Irmer, und bezeichnet die Multi-Kulti-Gesellschaft als Irrweg.
Bouffier lässt sich bei Bundesratsabstimmung zur Laufzeitverlängerung von Kanzlerin Merkel über den Tisch ziehen und stimmt dem Gesetzentwurf der Regierung zu.