Die Erinnerung an die Mauer ist Teil des demokratischen Grundkonsenses

Als „Bestandteil eines demokratischen Grundkonsenses und einer demokratischen Gesellschaftsräson“ hat der SPD-Landtagsabgeordnete Gerhard Merz in der heutigen Landtagsdebatte zum 50. Jahrestag des Mauerbaus bezeichnet. Die Beschäftigung mit der Geschichte der DDR und mit dem Charakter ihres gesellschaftlichen und staatlichen Systems müsse der historischen Wahrheit und Wahrhaftigkeit verpflichtet sein und von einem klaren moralischen Standpunkt aus geführt werden.

„Zwei Daten in der Geschichte der DDR geben besonders deutlich über den grundlegenden Charakter ihres gesellschaftlich-staatlichen Systems Auskunft, nämlich der 17. Juni 1953 und der 13. August 1961. Zwischen beiden Daten besteht ein innerer Zusammenhang“, erklärte Merz, der den 17. Juni 1953 als notwendig in einen politischen Kampf für politische Freiheit und Demokratie umschlagenden Kampf um bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen bezeichnete. Dieser Aufstand habe der Staats- und Parteiführung der DDR die moralische und politische Legitimation entzogen, mit der Niederschlagung des Aufstandes habe sich die Staats-und Parteiführung der DDR die Möglichkeit genommen, mit den Menschen in der DDR in irgendeine Form des ehrlichen, konstruktiven Dialogs zu treten. Sie habe damit den Menschen auf lange Zeit die Hoffnung genommen, ihre Lebensumstände in der DDR grundsätzlich ändern zu können.

„Dass das Regime sich trotz vorhandener politischer und ökonomischer Alternativen für den Weg der Diktatur und der Repression mit all den verheerenden Folgen für die Menschen entschieden, darin liegt seine politische Verantwortung und daraus resultiert ihre moralische Verantwortung für all die Opfer, die dieser Weg gekostet hat und denen unser Gedenken heute erneut in besonderer Weise gewidmet ist.“

Nach dem 17. Juni hätten viele in der DDR eben nur in der Flucht die Chance, politischer Unterdrückung, ökonomischem Mangel und persönlicher Perspektivlosigkeit zu entgehen. „Die massenhafte Flucht aus der DDR war das Resultat der inneren Verhältnisse in der DDR und nicht irgendwelcher finsteren westlichen Verschwörungen, wie die DDR-Propaganda glauben machen wollte. Deshalb reagierte die Staats-und Parteiführung erneut nach dem einzigen Muster, das ihr geblieben war: nach dem Muster der Repression“, so Merz. „Diese Repression fand ihr Mittel und ihren vollendeten Ausdruck in der Berliner Mauer, die deshalb vollkommen zu Recht zum weltweiten Symbol für den Charakter des Systems wurde und bis heute geblieben ist.“

Merz erinnerte an die 239 Menschen, die an der Mauer den Tod fanden, aber auch an diejenigen, die an den anderen „Grenzsicherungsanlagen“ der DDR „mit ihren Selbstschussanlagen und all dem anderen Zubehör des Todes“ ums Leben kamen.

Die DDR sei keine sozialistische Diktatur, sie sei auch nicht die Diktatur einer „sozialistischen“ Partei gewesen. „Dies hervorzuheben ist uns als Sozialdemokraten wichtig, die wir an der Idee des demokratischen Sozialismus unter einer nationalsozialistischen Diktatur ebenso festgehalten haben wie unter dem spät- bzw. poststalinistischen Regime einer Partei, die den Namen des Sozialismus ebenfalls missbräuchlich im Schilde führte. Zur Geschichte der DDR gehört auch die Geschichte ihrer Wirkung auf die politische Entwicklung in der Bundesrepublik. Wegen des Missbrauchs des Begriffs des Sozialismus in der DDR wurde und wird versucht, diejenigen als demokratisch unzuverlässig zu verleumden, die an der Unteilbarkeit der Ideale von Freiheit und Sozialismus bis heute festhalten.“

Genauso wenig wie die SED eine sozialistische Partei im Sinne dieser Werte und Grundüberzeugungen des demokratischen Sozialismus gewesen sei, genauso wenig war die DDR ein sozialistisches Land. „Am ‚real existierenden Sozialismus‘, den die SED und ihre westdeutschen Apologeten reklamierten, war, mit einem Wort Rudi Dutschkes, alles real, nur nicht der Sozialismus.“

Ökonomisch betrachtet habe es sich um eine autoritäre staatliche Zwangs- und Kommandowirtschaft, in jedem Fall um eine Mangelwirtschaft gehandelt, die den Bedürfnissen der Menschen in der DDR in vieler Hinsicht nicht gerecht wurde und auch mit den Mitteln dieses Wirtschaftssystems nicht gerecht werden konnte. „Politisch betrachtet handelt es sich um die durch willfährige Blockparteien, die die pseudodemokratische Fassade abgaben, notdürftig kaschierte Herrschaft einer Partei, die sich selbst als Staatspartei etabliert hatte und die alle staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen dominierte.“

Merz erinnerte aber auch daran, dass paradoxerweise gerade durch den Mauerbau ein Prozess in Gang gekommen sei, in dem die Mauer wieder durchlässiger gemacht wurde. „Auf eine sehr bestimmte Art und Weise könnte man den 13. August auch als einen der Ausgangspunkte für die Entspannungspolitik deuten. Die Entspannungspolitik wiederum trug in einem langen und widerspruchsvollen Prozess und zusammen mit anderen Faktoren zum endlichen Zusammenbruch der staatlichen und gesellschaftlichen Systeme Osteuropas bei. Der zentrale Grund dafür war aber die völlige innere Zerrüttung dieser Systeme und die Tatsache, dass sich – beginnend mit der Solidarnosc-Bewegung in Polen – die Menschen in diesen Ländern und schließlich auch in der DDR gegen die Machthaber erhoben. Insofern ist die Geschichte der DDR, des 17. Juni und des 13. August auch ein Lehrstück dafür, dass gesellschaftlicher Fortschritt niemals durch Zwang geschaffen werden kann und dass eine Gesellschaft und ein Staat auf die Dauer nicht auf Zwang errichtet und mit Mauern geschützt werden können. Deshalb kann und muss die Erinnerung an den 17. Juni und an den 13. August Bestandteil der demokratischen Erinnerungskultur und der demokratischen Gesellschaftsräson sein.“