
Frage: Was verstehen Sie unter sozialer Gerechtigkeit?
Bischof Hein: Es gibt keine allgemeine Definition. In evangelischer Perspektive ist soziale Gerechtigkeit vor allem Teilhabegerechtigkeit. Sie nimmt mehr in den Blick als nur die wirtschaftliche Situation einer Gesellschaft, sondern richtet ihr Augenmerk auf die vielfältigen sozialen Lebensbezüge. Wesentlich am Gedanken der sozialen Gerechtigkeit sind zwei Aspekte: Erstens die Befähigung zu Eigenverantwortung und zweitens Solidarität. Menschen sollen gefördert werden, das Ihre für unsere Gesellschaft beizutragen. Eigenverantwortung und Leistungsbereitschaft sind durchaus evangelische Werte allerdings nur, wenn sie einander richtig zugeordnet sind.
Deshalb ist Solidarität immer unbedingt und gleichzeitig mit zu bedenken: Wer Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung bejaht, muss stets diejenigen im Blick behalten, die vorübergehend oder auch dauerhaft solche Leistung nicht oder nicht mehr erbringen können. Mit Ihnen müssen wir ehrliche, und nicht bloß gönnerhafte, Solidarität üben. Beide Aspekte gehören zusammen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wenn eine Gesellschaft sich als sozial gerecht verstehen will.
Frage: Was müssen wir tun, um soziale Gerechtigkeit zu verwirklichen?
Bischof Hein: Der Protestantismus als eine Reformbewegung ist von Anfang an eine Bildungsbewegung gewesen. Darum hat Bildung bei uns bis heute einen hohen Stellenwert. Unter dem Titel Grenzen überwinden Teilhabe erfahren hat die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck just in diesen Wochen zu diesem Thema ein Impulspapier vorgelegt, weil wir in der Teilhabe an Bildungsmöglichkeiten einen Schlüssel für die Entwicklung einer gerechten Gesellschaft sehen.
Frage: Welche Rolle soll oder muss der Staat in diesem Prozess einnehmen?
Bischof Hein: Eine Gesellschaft muss sich befragen lassen, wie es in ihr mit den Teilhabemöglichkeiten all ihrer Mitglieder bestellt ist. Und wer eine Gesellschaft will, in der möglichst viele Menschen in Eigenverantwortung und Solidarität leben, wird nicht umhin kommen, sich für einen handlungsfähigen Staat auszusprechen! Gemeint ist damit nicht ein Staat, der sich in alle Belange und Lebensbereiche seiner Bürgerinnen und Bürger einmischt. Sondern damit ist ein Staat gemeint, der trotz schwieriger finanzieller Rahmenbedingungen in der Lage bleibt, dafür Sorge zu tragen, dass Eigenverantwortung und Solidarität in einem ausgewogenen Verhältnis stehen.
Bischof Prof. Dr. Martin Hein, Evangelische Kirche Kurhessen-Waldeck, war Gast auf dem Hessengipfel.