„Alles ist möglich. Du kannst alles machen, was Du willst.“ Dieser Satz ihrer Eltern hat sich Nadine Gersberg eingebrannt. Es ist ein Satz, den sie als Kind immer wieder gesagt bekam. Sie, ihre beiden Schwestern und ihr Bruder sollten gleichberechtigt aufwachsen und alle Chancen bekommen, damit sie später mal ein gutes Leben führen können. Auch als Nadine Gersberg sich als Mädchen entscheidet, Karate lernen zu wollen, ist das für die Eltern kein Problem. „Du kannst alles machen, was Du willst“, lautet auch in diesem Fall ihr Erziehungsgrundsatz.
Ihr Vater ist Zahntechniker, sie wächst umgeben von vielen Cousins, Cousinen, Tanten und Onkeln auf. Sie sind Maurer, Dachdecker und Schiffsbauer in einer Werft – eine große Handwerkerfamilie.
Wirklich viel Geld ist im sechsköpfigen Haushalt nie übrig, in den Urlaub fährt die Familie nur einmal gemeinsam, aber die Eltern lassen sich einiges einfallen, um die Freizeit ihrer Kinder attraktiv zu gestalten. Sie verbringen viel Zeit in der Natur, sammeln Beeren, bauen Hütten. Es wird viel gelacht in der Familie. Nadine Gersberg spricht von einer glücklichen Kindheit.
Aber es wird schwerer, als es sich Nadine und ihre Eltern ausgemalt haben. Dass ihre Noten ausreichen, um nach der Realschule auch das Abitur zu machen, erfahren sie nur durch Zufall: Nadines Freundin sagt ihr, dass sie sich ans Gymnasium anmelden wird, und die beiden Freundinnen haben ähnliche Noten. Niemand an der Schule bestärkt sie darin, sich tatsächlich ihren Berufswunsch zu erfüllen: Nadine würde damals am liebsten Journalistin werden. Im Dorf ist es aber üblich, dass Kinder in ihrem Milieu bleiben und auch im Ort. Ihr Klassenlehrer warnt sie damals sogar: „Wenn du aufs Gymnasium gehst, werden deine Noten rapide abstürzen“. Auch ihre Eltern verunsichern diese Aussagen, sie haben Zweifel, ob das Abitur der richtige Weg für ihre Tochter ist.
Doch die junge Nadine Gersberg beweist damals schon, welche politische Kraft in ihr steckt. Sie beharrt auf ihrem Recht. Sie fordert ein, was ihre Eltern ihr stets versichert hatten: „Du kannst alles machen, was Du willst.“ Am Ende langer Diskussionen setzt sie sich gegen alle Bedenken durch.
Auf dem Wirtschaftsgymnasium fühlt sie sich wohl. Sie gehört zum ersten Jahrgang der neu gegründeten Schule. Die Lehrerschaft ist motiviert, die Schülerinnen und Schüler individuell zu fördern. Nadine Gersberg stürzt keineswegs ab, ihre Noten sind gut. Nebenbei engagiert sie sich als stellvertretende Schulsprecherin und entdeckt zum ersten Mal die Politikerin in sich.
Auf dem Weg zum Abitur kommen dennoch Herausforderungen auf sie zu. Ihr Vater erkrankt schwer. Er hat bei der Arbeit giftiges Beryllium eingeatmet, das nun seine Organe zerstört. Sein Zustand wird Jahr für Jahr schlechter, die Familie ist verzweifelt. Die Berufsgenossenschaft will seine Krankheit nicht als Berufserkrankung anerkennen, hält die Familie hin, die ohnehin von Sorgen um Ehemann und Vater geplagt ist. Jetzt rücken Geldprobleme in den Vordergrund. Nadine Gersberg muss als älteste Tochter noch mehr Verantwortung übernehmen. Damit sie als junge Frau dennoch mal ausgehen kann, arbeitet sie neben der Schule. Sie kellnert in einem italienischen Restaurant, arbeitet in einer Gärtnerei, in den Ferien ist sie Saisonkraft auf der Nordseeinsel Borkum. Neben dem Lernen für das Abitur und der Arbeit bleibt nicht viel Freizeit. „Das war keine leichte Zeit, aber ich glaube, dass ich deshalb heute nie Angst davor habe, Verantwortung zu übernehmen. Ich weiß, dass ich das kann.“
Schließlich hilft der Sozialverband der Familie, er stellt einen Anwalt, die Erkrankung wird anerkannt, und zumindest finanziell kommt die Familie wieder in ruhigeres Fahrwasser. „Hätte der Sozialverband uns nicht geholfen, wir hätten wahrscheinlich alles verloren“, ist sich Gersberg sicher. Später machen sie und ihre Familie Erfahrungen mit dem Medizinischen Dienst, der die Pflegestufe des Vaters einschätzen soll. „Sie haben versucht, seine Lage zu beschönigen, aber ich war vorbereitet und habe mir das nicht gefallen lassen“, berichtet Gersberg. Als Politikerin setzt sie sich heute gegen diese Praktiken ein. „Es kann nicht sein, dass nur diejenigen zu ihrem Recht kommen, die sich einen Anwalt leisten können. Es kann nicht sein, dass kranke Menschen aus taktischen Gründen mürbe gemacht werden. Die Versicherungen und Institutionen wissen nicht, was sie den Familien damit antun“, sagt sie.
Nadine besteht ihr Abitur und beginnt ein Studium der Sozialwissenschaften in Göttingen. Sie finanziert das Studium über Bafög und arbeitet zusätzlich als Kellnerin, später als studentische Hilfskraft an der Universität: „Ohne Bafög hätte ich nicht studieren können“, ist sie sich sicher und ist der SPD für die Einführung der Studienhilfe dankbar.
„Ich kam an der Uni an und habe nur Bahnhof verstanden“, erinnert sich Gersberg. Sie weiß nicht, was Scheine sind, welchen Unterschied es zwischen Seminar und Vorlesung gibt, und sie hat das Gefühl, dass ihre Sprache sich stark von der ihrer Mitstudierenden unterscheidet. „Ich kam mir vor wie ein kleines unwissendes Landei“, sagt sie heute. „Vor jedem Aufzeigen war ich wahnsinnig nervös und hatte Schweißausbrüche, aber ich habe mich trotzdem immer wieder gemeldet – ich wollte mich nicht selbst klein machen“, erinnert Gersberg sich.
„Ich möchte heute als Politikerin erreichen, dass alle Schülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen eine sehr individuelle Beratung über ihren weiteren Bildungs- oder Berufsweg erhalten. Jede und jeder sollte alle Möglichkeiten kennen, die ihm oder ihr offenstehen. Das kann eine Ausbildung sein oder ein Studium oder beides. Dabei sollte auf die individuellen Wünsche und Talente der Jugendlichen eingegangen werden. Keinesfalls dürfen die Herkunft oder das Geschlecht eine Rolle spielen – das ist mir wichtig, und dafür setze ich mich ein.“
Nadine Gersberg kandidiert für den Wahlkreis 43 Offenbach.
Erfahren Sie mehr über Nadine Gersberg auf ihrer Website, auf Facebook oder auf Instagram.